Im Gespräch mit … Michael Ebling


Seit 2012 ist der Sozialdemokrat und gebürtige Mainzer Michael Ebling Oberbürgermeister der Landeshauptstadt Mainz. In der schwierigen Zeit der Corona-Pandemie sprechen wir mit ihm über politische wie gesellschaftliche Herausforderungen für unser demokratisches Zusammenleben.


Interview: Dr. Cornelia Dold & Janika Schiffel | Juni 2020


Zur Person
Michael Ebling ist Jurist und sozialdemokratischer Kommunal- und Landespolitiker. Im März 2012 wurde er erstmals zum Oberbürgermeister in der Landeshauptstadt Mainz gewählt, 2019 wurde er für eine weitere Amtszeit von acht Jahren wiedergewählt. Der in Mainz geborene SPD-Politiker war zuvor Ortsvorsteher in Mainz-Mombach, Mitglied des Stadtrates, Jugend- und Sozialdezernent sowie Staatssekretär im Bildungs-, später Bildungs-, Wissenschafts- und Kulturministerium von Rheinland-Pfalz.
(Foto: Landeshauptstadt Mainz/Alexander Heimann)



Wir leben derzeit in einer schwierigen Zeit, die für uns alle neu und ungewohnt ist. Wie empfinden Sie die momentane Stimmung in der Stadt?

Ich möchte es ganz klar sagen: Ich bin stolz auf die Mainzerinnen und Mainzer! Ich bin stolz, mit welcher Ruhe, Geduld und Tapferkeit die allermeisten von ihnen das ertragen, was über uns alle so plötzlich und unerwartet hereingebrochen ist. Und dabei trifft diese neue Situation uns alle hart – vor allem aber diejenigen unter uns, die sich um alte Menschen kümmern, die ihre Kinder jetzt zu Hause betreuen müssen, deren Existenz als Selbständige oder Freiberufler auf dem Spiel steht oder die in Kurzarbeit oder sogar arbeitslos sind. Und das sind viele Menschen in unserer Stadt! Dazu kommen die alltäglichen Beschränkungen und gesetzlichen Vorgaben, die unser Miteinander auf eine echte Belastungsprobe stellen. Stolz bin ich aber auch, weil ich gerade eine unglaubliche Kreativität und Solidarität in unserer Stadt erlebe: Wie die Mainzerinnen und Mainzer sich gegenseitig helfen, wie sie neue Ideen entwickeln, um über die Runden zu kommen, das stimmt mich hoffnungsvoll für die Zukunft. Auch wenn wir dieses und vermutlich kommendes Jahr auf vieles verzichten müssen, bin ich mir sicher, dass unsere Stadt gut durch die Krise kommt. Ganz sicher bin ich mir, dass wir dabei unser tolles Gemeinschaftsgefühl bewahren werden.


Wie vermittelt man Bürger*innen Maßnahmen, die zur Eindämmung der Corona-Pandemie getroffen wurden und werden, und beteiligt sie – insbesondere in Zeiten, in denen zivilgesellschaftliche Handlungsmöglichkeiten wie öffentliche Demonstrationen eingeschränkt sind?

Die Bürgerinnen und Bürger müssen sich darauf verlassen können, dass ihre Stadt­verwaltung alles unternimmt, um sie gesundheitlich zu schützen. Dafür ist Vertrauen das A und O! Auch aus diesem Grund kommt derzeit alle zwei Tage der Verwaltungsstab der Landes­hauptstadt Mainz zusammen, um die aktuelle Lage zu bewerten – und um die notwendigen Maßnahmen so anzupassen, dass eine Ausbreitung des Corona-Virus eingedämmt und zugleich die Belastungen für die Öffentlichkeit möglichst gering gehalten werden können. Ganz besonders richten wir unser Augenmerk zudem auf die schwierige finanzielle Lage für Selbstständige, Freiberufler und Kulturschaffende. Ihnen helfen wir mit dem Hilfspaket „Mainz hilft sofort – Unterstützung für die Wirtschaft, das Ehrenamt, die Familien, die Kultur und den Zusammenhalt in unserer Stadt“ derzeit schnell und unbürokratisch. Mir ist es ganz wichtig zu zeigen, dass wir niemanden vergessen, dass wir niemanden in der Krise allein lassen! Allerdings muss uns allen auch klar sein, dass es für niemanden von uns ohne Einschränkungen gehen wird. Wenn wir Sicherheit wollen, bedeutet das unweigerlich eine Einschränkung unserer Handlungs­möglichkeiten und unserer individuellen Bewegungsfreiheit. Für eine Demokratie ist das ein ganz sensibler Punkt, schließlich ist die Versammlungsfreiheit ein hohes Gut, ja ein Grundrecht. Ich finde die Sorgen in der Öffentlichkeit daher absolut verständlich. Allerdings muss ich auch sagen: Corona schränkt eben nicht nur unsere Bewegungs­freiheit ein, sondern leider auch unsere Spontaneität. Versammlungen oder Demon­strationen sind im Moment nur mit Anmeldung und einem offiziellen Versammlungsleiter sowie unter Einhaltung der Abstandsregeln erlaubt, denn nur so können wir als Stadt­verwaltung dafür Sorge tragen, die Bevölkerung auch weiterhin gesundheitlich zu schützen. Und auch wenn ich mir natürlich eine möglichst breite Zustimmung zu den bereits ergriffenen oder den zukünftig noch zu ergreifenden Maßnahmen wünsche, so akzeptiere ich, dass es Menschen gibt, die ihnen mit Skepsis gegenüberstehen. Skepsis und Wachsamkeit gehören für mich zu einem demokratischen Miteinander dazu – aber Vernunft, Einsicht und Vertrauen eben auch.


Wie kann man garantieren, dass die Demokratie und die demokratische Teilhabe in unserer Stadt auch während Krisenzeiten nicht geschwächt werden?

Auch in der Krise hat der Stadtrat getagt und wird es weiter tun, wenn auch notgedrungen mitunter in kleinerer Besetzung und mit verkürzter Tagesordnung. Die Mainzerinnen und Mainzer können sich daher sicher sein, dass ihre gewählten Vertreterinnen und Vertreter weiter für sie arbeiten. Und natürlich gibt es auch weiterhin Möglichkeiten des Aus­tausches. Alle Bürgerinnen und Bürger konnten und können sich per Mail, Brief oder Telefon an den Rat und an die Verwaltung wenden. Auch die Ortsvorsteher und Orts­vorsteherinnen waren und sind so weiter ansprechbar. Uns allen war es wichtig, schnell auf die Zuschriften und Anrufe zu reagieren und mit den Menschen im Dialog zu bleiben. Und natürlich werden wir auch künftig bei allen Projekten weiter auf Bürgerbeteiligung setzen. Dafür werden wir vielleicht neue Konzepte brauchen, wenn uns das Virus noch länger begleiten sollte, aber sie wird weiter eine Säule der Stadtentwicklung bleiben. Und so langsam sind auch persönliche Kontakte wieder möglich – natürlich unter Einhaltung der Regeln zum Infektionsschutz. Ich musste schweren Herzens meine Bürgersprechstunde in der Hochphase der Krise absagen. Aber ich freue mich sehr darauf, dass es jetzt im Juni wieder losgeht.



In den Medien nimmt man momentan ein Aufkeimen von Verschwörungstheorien – oft in Verbindung mit antisemitischen oder rassistischen Argumentationen – wahr. Auch in Mainz fanden bereits sogenannte „Hygienedemos“ statt, bei denen mitunter solche Stimmen laut wurden. Wie bewerten Sie diese Entwicklungen und wie kann man seitens der Politik damit umgehen?

Ich will dazu zwei Dinge sagen. Erstens: Solche Demos bekommen ungemein viel Auf­merksamkeit in unserer medialisierten, hyperaktuellen Gesellschaft – weil Skurriles, Negatives, Verrücktheiten und leider auch Gewalt und Gewaltbereitschaft, also all das, was eben nicht normal ist, unsere Aufmerksamkeit besonders auf sich zieht. Wir müssen nur aufpassen, dass wir nicht am Ende glauben, weil das Verrückte und Negative oder sogar das Gewalttätige auf allen Kanälen läuft, sei es die Normalität. Wir dürfen nicht immer den Fehler machen und den Eindruck erwecken, dass eine Minderheit, nur weil sie besonders laut ist, die Mehrheit ist. Damit verleihen wir diesen Positionen eine Relevanz, die sie in der Gesellschaft nicht haben. Die aller-, allermeisten Menschen sind sehr besonnen und solidarisch in dieser Krise. 

Das vorweggeschickt will ich trotzdem, zweitens, sagen: Ich finde das, was Sie an­sprechen, besorgniserregend, weil all das, glaube ich, ein Symptom einer größeren Entwicklung der vergangenen Jahre ist. Angefeuert durch die sozialen Medien nehmen rassistische, antisemitische und antidemokratische Äußerungen in unserer Gesellschaft zu, weil eine bestimmte Gruppe von Menschen sich dazu gegenseitig ermutigt. Das tarnt sich dann als „Man wird doch wohl noch sagen dürfen…“-Harmlosigkeiten, ist aber alles andere als harmlos, weil es unsere Gesellschaft vergiftet. Und das Perfide daran ist, dass viele irgendwann müde werden zu widersprechen und es dann auf einmal so wirkt, als sei es jetzt normal oder zumindest akzeptiert, so zu reden oder so zu denken. Das ist es nicht! Die Mehrheit denkt nicht so! Und wir müssen aufpassen, dass diese Positionen nicht durch den vielen Raum, den sie bekommen, am Ende als normal erscheinen. Und ganz ehrlich: Ich kann alle Demokratinnen und Demokraten nur aufrufen: Wer sich glaub­haft für die Grundrechte einsetzen will, der kann nicht gemeinsam mit denen demonstrieren, die sie für einzelne Menschen, Gruppen oder uns alle abschaffen wollen!

Wenn Sie mich fragen, was dagegen hilft: Bildung, Bildung, Bildung. Und zwar erstens im Sinne der Vermittlung von Wissen, auf das man sich stützen und an dem man die Dinge überprüfen kann, die man im Internet liest. Zweitens im Sinne von Demokratiebildung. Davon kann es gar nicht genug geben. Dazu zähle ich auch ehrenamtliches Engagement in der Gemeinschaft. Wer sich einbringt für andere, ob in Vereinen, Initiativen oder Gemeinden zum Beispiel, der denkt auch im Alltag nicht nur an sich. Und drittens im Sinne der Stärkung der Persönlichkeit und der Selbstwirksamkeit. Denn wer sich sicher ist, dass er die Welt um ihn herum beeinflussen und gestalten kann, wer die Erfahrung macht, dass es nicht geheime Weltmächte sind, die das eigene Leben bestimmen, sondern man selbst – von Schicksalsschlägen wie Krankheit oder Arbeitslosigkeit, gegen die eine Gesellschaft sich nur gemeinsam solidarisch versichern kann, einmal abgesehen – der fällt auch nicht dem Verschwörungsglauben anheim. Ich sage übrigens „Glauben“, weil man Theorien ja an der Wirklichkeit überprüfen kann. Das geht aber bei Verschwörungsglauben nicht, weil ja alles im Geheimen stattfindet.

Ich finde aber bei alldem ist die wichtigste Botschaft: Die aller-, allermeisten Mainzerinnen und Mainzer stehen diese Krise solidarisch miteinander und im Vertrauen aufeinander durch. Und das sollte öffentlich eine viel größere Rolle spielen, als die wenigen, die das nicht machen.



Die Folgen dieser Krise – gerade die langfristigen – sind noch nicht abzuschätzen. Welche „Lehren“ könnten wir Ihrer Meinung nach in Bezug auf das demokratische Zusammenleben aus dieser Krise mitnehmen?

Ich finde, diese Krise hat vor allem gezeigt, dass unsere Demokratie sehr schnell und erfolgreich handeln kann. Es gibt ja Menschen, die glauben, autoritäre Systeme könnten die Dinge besser, schneller und effektiver regeln. Ich glaube, unsere Demokratie hat gezeigt, dass diese Autoritarismus-Verehrung keine Grundlage hat. Und bei allen Ein­schränkungen, die in den vergangenen Wochen nötig waren, um die Menschen in unserer Stadt und im ganzen Land zu schützen: Wir hatten immer eine viel größere Freiheit als die Menschen in den meisten anderen Ländern und allemal mehr als die Menschen in autoritären Systemen. Und sobald die Einschränkungen nicht mehr in dem Maße nötig sind, wurden und werden sie sofort zurückgefahren. Ich finde, die Demokratie hat hier eine historische Bewährungsprobe bestanden bzw. besteht sie gerade. Das ist für mich etwas, das wir vielleicht im Moment noch nicht im vollen Umfang sehen können, das aber sicher in die Geschichtsbücher eingehen wird.

Auch die Hilfspakete der Bundesregierung, der Landesregierungen, der Kommunen wurden in Rekordzeit beschlossen. Der Staat hat auf allen Ebenen große Handlungs­fähigkeit bewiesen. Ich würde mir wünschen, dass wir uns das und den Mut zu großen Entscheidungen auch in Zukunft bewahren. Ich hoffe, dass wir uns in Deutschland nicht in den kommenden Jahren wieder hinter „Schwarzen Nullen“ oder dem Wettbewerb der Globalisierung oder sonst irgendwelchen Ausreden verstecken, wenn es gilt, politisch im Sinne der Menschen zu handeln. Denn auch um die Folgen der Krise zu bewältigen, werden wir noch viel Handlungsfähigkeit beweisen müssen. Und an der Finanzierung der Folgen müssen wir, finde ich, die beteiligen, die jetzt als Nebeneffekt überproportional von den Rettungsmaßnahmen der Notenbanken profitieren, also große Vermögen, große Digitalkonzerne oder Hedgefonds. Denn auch die Lasten gerecht zu verteilen, gehört zum demokratischen Zusammenleben. Dazu werden wir wieder Mut brauchen, aber dass wir solche großen Schritte gehen können, haben wir jetzt bewiesen. Demokratie braucht kein Duckmäusertum, sondern Mut!

Und den wünsche ich mir auch noch mehr dabei, Solidarität in Europa zu leben. Für mich ist eine der großen Lehren aus dieser Krise, dass der europäische Gedanke beinahe am Kleinmut, auch aus Deutschland, gescheitert wäre. Jetzt sieht es so aus, als haben wir die Kurve bekommen. Das demokratische Zusammenleben dürfen wir nicht nur für unsere eigenen Länder denken. Da sind die Menschen manchmal weiter als die Regierungen. In Mainz gab es beispielsweise eine große Hilfsbereitschaft für unsere Partnerstadt Zagreb, die neben der Corona-Krise auch noch die Folgen eines Erdbebens zu bewältigen hatte.
Und die dritte Lehre für mich ist: Wir haben eine riesengroße Solidarität einer lebendigen Zivilgesellschaft erlebt – von der Nachbarschaftshilfe, über Studierende, die online Nachhilfe für Schülerinnen und Schüler geben, bis hin zu Spendenaktionen. Die Menschen stehen zusammen und wessen Geschäftsmodell die Spaltung ist, der wird scheitern. Und dieses Zusammenstehen zeigt für mich auch: Eine starke solidarische Zivilgesellschaft und ein mutiges, aber nicht übermütiges, staatliches Handeln sind keine Gegensätze, wie der Neoliberalismus es uns in den letzten Jahrzehnten immer wieder einzureden versucht hat, sondern sie ergänzen sich.

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