Dieter Burgard

 

Seit 2018 ist Dieter Burgard Beauftragter der Ministerpräsidentin für jüdisches Leben und Antisemitismusfragen – und damit bundesweit der erste Beauftragte dieser Art. Wir sprachen mit ihm über Antisemitismus in unserer Gesellschaft, aber auch über sein Amt als Antisemitismusbeauftragter und sein persönliches Engagement im Bereich der Erinnerungsarbeit.

Interview: Dr. Cornelia Dold | Juni 2021

Zur Person
Der gelernte Bankkaufmann, langjährige Erzieher im Heimbereich und spätere Leiter einer Einrichtung für Menschen mit geistiger Behinderung war zwischen 2001 und 2010 rheinland-pfälzischer Landtagsabgeordneter. Zwischen 2010 und 2018 war Dieter Burgard Bürgerbeauftragter des Landes sowie Beauftragter für die Landespolizei und Beschwerdestelle für die Kinder-und Jugendhilfe. Seit 2018 ist er Beauftragter der Ministerpräsidentin für jüdisches Leben und Antisemitismusfragen. Darüber hinaus engagiert er sich bereits seit 1989 ehrenamtlich in der Erinnerungsarbeit, unter anderem als Vorsitzender des Fördervereins der Gedenkstätte KZ Hinzert sowie als Vorsitzender des Sprecherrates der Landesarbeitsgemeinschaft der Gedenkstätten und Erinnerungsinitiativen zur NS-Zeit in Rheinland-Pfalz.
Dieter Burgard ist Mitglied des Fachbeirates der Landeszentrale für politische Bildung und Mitglied im Stiftungsrat „Haus des Erinnerns – für Demokratie und Akzeptanz Mainz”.

 

Wie bewerten Sie als Beauftragter der Ministerpräsidentin für jüdisches Leben und Antisemitismusfragen die aktuelle Diskussion über Antisemitismus in Deutschland?

2021 blicken wir auf 1700 Jahre Judentum in Deutschland und Rheinland-Pfalz zurück, das ist keine Selbstverständlichkeit. Von der Antike über das Mittelalter bis in die Neuzeit verfestigte sich leider ein meist negatives Bild von Jüdinnen und Juden, aufgeladen durch antijüdische Mythen und Klischees, was letztlich in den unfassbaren Verbrechen der Nazis gipfelte. Dass jüdisches Leben nach den Schrecken der Shoa wachsen und wieder zu einem integralen Bestandteil unserer Gesellschaft werden konnte, ist ein großes Geschenk. Alle Deutschen schulden den Opfern der Shoa deshalb nicht nur ein ehrendes Gedenken, sondern auch ein entschlossenes und couragiertes Eintreten gegen Menschenhass, Intoleranz und Ausgrenzung. Daran immer wieder zu erinnern, ist unser aller Verantwortung.
Aktuell stelle ich zwar eine höhere Sensibilität in der Öffentlichkeit für das Thema Antisemitismus fest, gleichwohl nehmen antisemitische Straftaten und Vorfälle bundesweit zu. Zwar verzeichnen wir in Rheinland-Pfalz im Bundesvergleich wenige antisemitische Straftaten, trotzdem ist jede Straftat eine zu viel. Die meisten sind rechtsextrem motiviert. Dazu kommen antisemitische Vorfälle, die in Statistiken fehlen, da sie nicht zur Anzeige gebracht werden. Zudem findet Antisemitismus immer stärker im Internet statt. Antisemitismus zu erkennen, zu benennen und zu begegnen ist Aufgabe von uns allen, denn er ist eine Kampfansage an unsere Grundwerte, die dem Respekt für jeden einzelnen Menschen, die der Achtung und dem Schutz der Menschenwürde verpflichtet sind. Es darf niemanden unberührt lassen, wenn Bürgerinnen und Bürger jüdischen Glaubens unter uns verunsichert leben müssen.

Krisenzeiten – wie die derzeitige Corona-Pandemie – zeigen oftmals wie durch ein Brennglas bestehende gesellschaftliche Probleme. So wurden auch in Deutschland bei Demonstrationen gegen die Maßnahmen der Bundesregierung zur Eindämmung der Pandemie antidemokratische, rassistische und antisemitische Stimmen laut. Hat Ihrer Einschätzung nach der Antisemitismus in unserer Gesellschaft zugenommen?

Eine Zunahme des Antisemitismus, ob offen oder versteckt, erleben wir leider weltweit und leider auch in Deutschland. In der Corona-Pandemie beobachten wir schockiert, wie sich gefährliches antisemitisches Gedankengut mit Verschwörungsmythen vermischt und eine Bühne findet. Gerade bei Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen zeigt sich öffentlich ein unverhohlener Antisemitismus. Wer einen so genannten „Judenstern”, ein Foto von Anne Frank oder von Auschwitz auf Corona-Demonstrationen zeigt, der äußert sich antisemitisch, verharmlost die Verbrechen der Nationalsozialisten und verhöhnt die Opfer der Shoa und der NS-Diktatur. Das ist respektlos und nicht hinnehmbar! Selbsternannten Verschwörungstheoretikern muss entschieden entgegengetreten und widersprochen werden, damit keine Ängste und Ressentiments geschürt werden.


2017 wurden Sie von Ministerpräsidentin Malu Dreyer als bundesweit erster Antisemitismusbeauftragter berufen und traten 2018 Ihr Amt offiziell an. Seitdem folgten viele weitere Bundesländer dem rheinland-pfälzischen Beispiel und ernannten eigene Antisemitismusbeauftragte. Warum braucht es in Ihren Augen dieses Amt und worin bestehen Ihre Aufgaben?

Ich sehe mich nicht nur als Antisemitismusbeauftragter, sondern auch – wie es meine Amtsbezeichnung zeigt – als Beauftragter für jüdisches Leben. Auch diese Bezeichnung haben andere Länder übernommen. Übrigens haben bis auf Bremen nun alle Bundesländer Beauftragte gegen Antisemitismus berufen bzw. werden dies in den kommenden Monaten tun. Solange Polizeistreifen jüdische Einrichtungen bei uns bewachen müssen und immer wieder Jüdinnen und Juden beleidigt, angegriffen und ihre Friedhöfe und Synagogen geschändet werden, ist es wichtig, hier klar und entschieden aufzutreten. Wir schützen die Religionsfreiheit, ja auch die Grundwerte unserer Demokratie. Antisemitismus gab es weit vor 1933 und leider auch nach 1945, doch nie wurde so klar ein politisches Zeichen für ein Miteinander in Vielfalt gesetzt, wie in den letzten drei Jahren. Bei Straftaten wird nun genauer hingesehen und das Strafgesetz wurde eindeutiger gegen Judenhetze ergänzt. Den jüdischen Gemeinden bin ich dankbar, dass sie den Dialog und die Öffentlichkeit mit Projekten wie „Likrat” und „Meet a Jew” suchen.


Wenn Sie die ersten Jahre als Antisemitismusbeauftragter in Rheinland-Pfalz kritisch reflektieren: Wie sieht Ihre Bilanz aus?

Antisemitismus ist nicht verschwunden, sondern wird in den letzten Jahren erschreckend sichtbarer. Der erneute bundesweite Anstieg antisemitischer Straftaten ist ein trauriger und beschämender Rekord. In Rheinland-Pfalz ist die Zahl antisemitischer Straftaten entgegen der bundesweiten Entwicklung in 2020 leicht gesunken. Dieser Trend ist zwar positiv zu bewerten, allerdings bleibt noch viel zu tun. Mit der im Herbst 2020 eingerichteten „Meldestelle für menschenfeindliche, rassistische und antisemitische Vorfälle in Rheinland-Pfalz“ und dem im Februar 2021 vorgestellten Leitfaden „Antisemitische Straftaten erkennen“ der Generalstaatsanwaltschaften Koblenz und Zweibrücken wurde die Bekämpfung von Antisemitismus in Rheinland-Pfalz deutlich gestärkt. Darüber hinaus wurde die Demokratiebildung für Schülerinnen und Schüler im Land ausgebaut, Fachtagungen und Seminare finden statt, und die Themen Antisemitismus sowie jüdisches Leben werden von vielen Akteurinnen und Akteuren ins Land getragen. Als Beauftragter der Ministerpräsidentin für jüdisches Leben und Antisemitismusfragen bin ich Ansprechpartner für Rheinland-Pfälzerinnen und Rheinland-Pfälzer jüdischen Glaubens, für Kommunen, Verbände und Vereine sowie für Religionsgemeinschaften, Bildungseinrichtungen und den Landtag. Ich gehe antisemitischen Vorfällen nach und stehe im ständigen Austausch mit den jüdischen Gemeinden und mit den Sicherheitsbehörden. Wichtig war und ist der Austausch mit den Akteuren gegen Rechtsextremismus in Rheinland-Pfalz. In den Jahren 2019 bis 2020 habe ich rund 300 Gesprächs-, Besuchs-, Tagungs-, Fortbildungs- und Vortragstermine absolviert. Unter anderem war ich Vortragender in Schulen und Kirchengemeinden, Besucher von jüdischen Fest- und Gedenktagen und Gesprächspartner mit den jüdischen Gemeinden.

Für eine demokratische, weltoffene und tolerante Gesellschaft ist gerade Prävention ein zentrales Merkmal. Inwiefern tragen Sie mit Ihrem Amt zur Prävention bei und was bräuchte es aus Ihrer Sicht noch, um Antisemitismus in unserer Gesellschaft entschieden entgegenzutreten und präventiv gegen Antisemitismus vorzugehen?

Beauftragte bewirken zwar keine Wunder, doch ich sehe in Bildung und Prävention zentrale Schlüssel zur Bekämpfung von Antisemitismus und Vorurteilen. Viele junge Menschen hatten bislang noch keine Berührungspunkte mit dem Judentum und kennen keine Menschen jüdischen Glaubens. Ein wichtiger Baustein meiner Arbeit ist deshalb, junge Menschen durch Vorträge und Diskussionsrunden zu sensibilisieren und zu informieren. So konnte ich im Rahmen zweier mehrwöchiger Lesereisen (2018 und 2020) zu rechter/rechtsradikaler, antisemitischer Musik an Schulen in Rheinland-Pfalz mit rund 2.400 Schülerinnen und Schülern in einen Dialog kommen. Darüber hinaus war ich in einer Vielzahl von Schulen im Land zu Vorträgen und Projektwochen zu Gast. Gemeinsam mit der Bildungsministerin habe ich erreicht, dass der Etat für die Fortbildung für Lehrkräfte, für Demokratieerziehung und für Erinnerungskultur in Rheinland-Pfalz stark erhöht wurde. Die Lehrpläne werden überarbeitet, sodass Besuche von außerschulischen Lernorten sowie der Sozialkundeunterricht vermehrt angeboten werden. Mir war von Beginn an bewusst, dass die Entfaltung und Sicherheit des jüdischen Lebens und die Prävention durch Begegnung und Bildung im Verlaufe meiner Amtstätigkeit zu wichtigen Arbeitsfeldern werden. Mehr Geld wurde auch in die Sicherheit von jüdischen Einrichtungen vom Land investiert und das nicht erst seit dem Amoklauf in Halle. Im Juni 2020 erschien unter meiner Beteiligung die Publikation „Zivilgesellschaftliches Lagebild Antisemitismus Rheinland-Pfalz“ der Amadeu Antonio Stiftung. Das Lagebild liefert eine wichtige und notwendige Grundlage zur kritischen Bestandsaufnahme antisemitischer Erscheinungsformen in Rheinland-Pfalz und gibt einen Überblick, an welchen Stellen die Zivilgesellschaft aktiv werden muss.


2021 wurde als Festjahr unter dem Motto „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ ausgerufen. Mit einer Vielzahl an Veranstaltungen will man nicht nur das jüdische Leben in seiner Vielfalt sichtbar machen, sondern zugleich ein starkes Zeichen gegen Antisemitismus setzen. Außerdem wird darüber diskutiert, ob der 9. Oktober (Anschlag auf die Synagoge in Halle an der Saale im Jahr 2019) zum Aktionstag für jüdisches Leben werden soll. Wie sehen Sie die Wirkung solcher öffentlicher Veranstaltungen?

Jüdisches Leben und jüdische Kultur gehören seit 17 Jahrhunderten zu unserem Land. Ich bin sehr froh, dass es in Rheinland-Pfalz zahlreiche Angebote gibt, die dieses Festjahr begleiten. Insgesamt sind es mehr als 70 Veranstaltungen von 30 Projektpartnerinnen und -partnern, die Sie allein in unserer Programmbroschüre finden können. Für uns in Rheinland-Pfalz ist dieses Festjahr umso bedeutender, da in diesem Jahr die Entscheidung über die Aufnahme der SchUM-Städte Speyer, Worms und Mainz in das UNESCO-Weltkulturerbe getroffen wird. Wir schauen in diesem Jahr auf das Auf und Ab, die hellen und die dunklen Zeiten. Mit dem 27. Januar haben wir einen Gedenktag, der an alle Opfergruppen der NS-Diktatur erinnert und die Shoa im Besonderen in den Fokus stellt. Und mit dem 9. November erinnern wir an die schrecklichen Novemberpogrome. Der 9. Oktober wiederum steht zum einen für den Terroranschlag auf die Synagoge in Halle, zum anderen auch für zwei Tote und zwei Schwerverletzte, die nicht der jüdischen Gemeinde angehörten. Mein Fazit: Es ist gut und wichtig, dass es zwei bedeutende Gedenktage und viele weitere wichtige Tage der Erinnerung gibt, dazu gehört auch der 9. Oktober oder die Tage der Deportationen.

Neben ihrem Amt als Antisemitismusbeauftragter sind Sie auch noch Vorsitzender der Landesarbeitsgemeinschaft der Gedenkstätten und Erinnerungsinitiativen zur NS-Zeit in Rheinland-Pfalz. Welche Erwartungen haben Sie an die Erinnerungsarbeit in unserem Land und welche Rolle kann sie Ihrer Meinung nach bei der Prävention gegen Antisemitismus spielen?

Landesweit sind viele engagierte Menschen unterwegs – und dies meist tausendfach ehrenamtlich – die Erinnerung an das Menschheitsverbrechen aufrecht zu halten. Rheinland-Pfalz unterstützt dies politisch tatkräftig, will keinen Schlussstrich ziehen. Schwerpunkt ist in den meisten der 78 LAG-Mitglieder die jüdische Geschichte, so auch an das Landjudentum , das heute noch in rund 400 jüdischen Friedhöfen, ehemaligen Synagogen und Betsälen sichtbar gehalten wird. Begegnungen mit Zeitzeugen werden gepflegt. So gehen diese heute noch zum Beispiel in Schulen. Es sind ältere Menschen, die als Kinder verfolgt wurden und auch nun die zweite Generation, die hautnah erlebten, wie traumatisiert die überlebenden Väter und Mütter waren.
Sie alle zeigen auf, wie sich in einer judenfeindlichen Diktatur und einer Gesellschaft Menschenverachtung und Menschenvernichtung entwickeln können. Unsere Gesellschaft ist durch Migration vielfältiger geworden und so ist das Thema „Völkermord” auch globaler anzulegen, wie auch die Frage der Menschenrechte. Da sind die Akteure in der Erinnerungsarbeit sehr gut aufgestellt, haben zeitgemäße Formen der Ansprache für jüngerer Menschen entwickelt, so durch Theaterstücke, Facharbeiten, digitale und künstlerische Projekte.
Antisemitismus muss man früh, präventiv und breit angelegt bekämpfen, so auch durch Information, Begegnung und aktive Auseinandersetzung. Auch das recht junge „Haus des Erinnerns – für Demokratie und Akzeptanz Mainz” ist ein sehr gutes Beispiel wie das Erinnern in neuer Form präventiv ansetzt. Das Schicksal vieler jüdischer Bürgerinnen und Bürger wird aufgezeigt, den Besucherinnen und Besuchern nahe gebracht und die Auseinandersetzung mit der Diktatur, den Menschenrechtsverletzungen, der Feindschaft gegenüber der Demokratie ermöglicht.

 

Aktuelle Meldungen des Antisemitismusbeauftragten Dieter Burgard finden sich auf der offiziellen Homepage der Staatskanzlei.
Allgemeine Informationen zu Antisemitismus sowie einen Überblick über antisemitische Straftaten in Rheinland-Pfalz 2020 sind im Verfassungsschutzbericht des Landes zusammengefasst.

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