Bei Band 1 unserer Schriftenreihe „Erinnerungskultur und Demokratie“ handelt es sich um die kommentierten und edierten Erinnerungen des Mainzers Walter Grünfeld. Diese reichen von seiner Kindheit und Jugend nach dem Ersten Weltkrieg, über die Zeit der Weimarer Republik und der nationalsozialistischen Diktatur bis zur unmittelbaren Nachkriegszeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Ergänzt werden sie durch umfangreiche Kommentare und zeithistorische Informationen. Diese Erinnerungen geben exemplarische Einblicke in die sich wandelnden politischen Verhältnisse, aber auch den Alltag jüdischer Familien. So erinnert sich Walter Grünfeld beispielsweise an die Zeit der Weimarer Republik:
Meine Eltern waren in der damaligen Weimarer Republik besonders politisch interessiert. Ich erinnere mich noch heute, dass ich an der Hand meiner Mutter anlässlich des Todes des ersten Reichspräsidenten der Weimarer Republik, Friedrich Ebert (SPD), bei der großen Trauerkundgebung auf dem Friedrich-Ebert-Platz war. […] Mein Vater war in der Weimarer Republik Mitglied des sozialdemokratischen Reichsbanner-Bundes/Eiserne Front und hat u. a. 1928 an dem großen Reichsbanner-Aufmarsch in Frankfurt am Main teilgenommen. Es war politisch eine unruhige Zeit. Es gab Straßen- und Saalkämpfe. Öfters mussten Wahlen veranstaltet werden. Nach diesen Wahlen ging ich immer mit meinen Eltern in das Gewerkschaftshaus, da sie an den Auszählungen der Wahlergebnisse sehr interessiert waren. Da tranken meine Eltern Bier und ich Limonade, und es gab Kartoffelsalat und Würstchen. Auch zu den Weihnachtsfesten des Reichsbanners gingen wir immer in den Saalbau. Das war immer sehr festlich und schön. Ich hatte daran eine große Freude. Trotz dieser unruhigen Zeit und wirtschaftlichen Not, von der ich als Kind nichts wusste, hatte ich eine schöne Kindheit.“
Durch seine Schilderungen gibt Walter Grünfeld insbesondere Einblick in den aufkeimenden Antisemitismus und die sich verschlechternden Lebenssituationen für jüdische Menschen in Mainz und Umgebung:
Das Leben ging weiter. Die Stimmung war schlecht. Wirtschaftliche Krise und sieben Millionen Arbeitslose waren vorhanden. Kein Wunder, dass man nach einem starken politischen Mann suchte, der die Wende herbeiführen sollte. Dass das deutsche Volk, das ehemals das Volk der Dichter und Denker war, sich einen österreichischen Arbeitslosen, der früher in Wien im Obdachlosenasyl zu Hause war, als Staatslenker auserkor, ist nicht zu fassen. […]
Die Jüdische Gemeinde versuchte in der angehenden schweren Zeit unter der Jugend einen Ausgleich zu schaffen. Wenn auch im Großen und Ganzen noch keine persönliche Verfolgung vorhanden war, so bestand doch tagtäglich in der Presse oder im Rundfunk die Hetze gegen die Juden, die nicht spurlos an uns vorüberging. Fast an jeder Straßenecke waren Schaukästen mit dem ordinären Hetzblatt „Der Stürmer“ des Antisemiten Julius Streicher angebracht. Es strotzte in diesem Blatt von abscheulichen, ehrverletzenden Zeichnungen, die die Juden als ‚Untermenschen‘ darstellten.“
Walter Grünfeld, 1921 in Darmstadt geboren, war aktives Mitglied des jüdischen Sportvereins „Hakoah Mainz“. Gerade der Sport scheint ihm in den Anfangsjahren der Diktatur ein Stück weit Normalität gegeben zu haben:
Seit der Gründung des Sportclubs „Hakoah“ gehörte ich diesem Verein als aktives Mitglied an. Ich trainierte viele Sportarten, z. B. Bodenturnen, Geräteturnen, Leichtathletik, insbesondere 100-Meter-Lauf, Staffellauf, Weitspringen, Hochspringen, Handballspiel und Boxen. […]
Ich habe in den frühen Nazijahren meinen Sport ausgeübt, habe sehr viel trainiert. Im Sommer 1936 haben wir mit dem Sportclub „Hakoah Mainz“ an einem Landessportfest des „Bar Kochba Frankfurt/Main“ auf einem schönen Sportplatz teilgenommen. Im 100-Meter-Lauf habe ich für meinen Sportverein einen Sieg auf dem 1. Platz geholt. Auch in der 4×100 Meter-Staffel hatten wir einen Sieg auf dem 1. Platz gemacht. Die Mädchen hatten Siege im Hoch- und Weitsprung geholt. Der Vorstand war über diesen Erfolg hocherfreut und hatte uns in das Café Frey in der Innenstadt von Frankfurt eingeladen. Der Inhaber dieses Cafés war jüdischen Glaubens. Im Boxen kam ich auch voran und hatte in diesem Jahr an einigen Schaukämpfen in Frankfurt und Offenbach teilgenommen.“
Obwohl Walter Grünfeld Ausgrenzung und Verfolgung erlebte und Teile seiner Familie in der Shoah verlor, sind seine Erinnerungen nicht verbittert, sondern vielmehr von Wehmut und der Liebe zu seiner Heimat geprägt. Walter Grünfeld selbst musste als sogenannter ‚Helfer‘ bei der Deportation jüdischer Mainzer*innen am 30. September 1942 fungieren, der Deportation, auf deren Liste auch seine Tanten Dina und Johanna standen:
Wir Helfer haben sowohl beim Aufladen in der Goetheschule wie auch beim Abladen am Güterbahnhof tatkräftig geholfen. Dies war auch sehr notwendig, da die armen Menschen mit ihrer doppelten, mitunter dreifachen Kleidung auf dem Körper naturgemäß sehr ungelenk waren. Aber was sollten sie machen, da sie nur Handgepäck mitnehmen durften. In den Mittagsstunden waren die Waggons voll beladen. Dennoch fuhr der Zug erst gegen 18.00 Uhr zunächst nach Darmstadt, die Landeshauptstadt des früheren Volksstaates Hessen, wozu auch Rheinhessen gehört hatte. Dort wurden sie wieder in einem Lager mit anderen hessischen Judentransporten in mehreren Tagen zusammengefasst. In Darmstadt wurden die Deportationstransporte für Polen und Theresienstadt zusammengestellt. Im Abstand von nur drei Tagen verließen am 27. und 30. September 1942 die Züge Darmstadt zum Transport in den Tod. Die Geheime Staatspolizei (Gestapo), Staatspolizeistelle Darmstadt, überschrieb die Namenslisten verschleiernd mit „Wohnsitzverlegung“. Der Abschied von Dina und Johanna war schwer und voller Tränen, fuhren sie doch einem unheimlichen Ziel entgegen. Ich werde nie den letzten grauenvollen Blick meiner Tanten vergessen. Es wurde mir dabei bewusst, Leid adelt nicht, sondern entblößt und erniedrigt.“
Walter Grünfeld, sein jüngerer Bruder Helmut und seine Eltern konnten die Zeit des Nationalsozialismus in der Region überleben. Dass sie dies schafften, hing von der Hilfe anderer Familienmitglieder und guter Freunde ab, denen Walter Grünfeld am Ende seiner handschriftlich verfassten Erinnerungen dankt:
Nun konnte ich ein neues Leben mit neuer Arbeit für die Zukunft anfangen. Wir waren frei. Zum Schluss bleibt nur Dank zu sagen für die Hilfe in schwieriger Zeit von deutschen Menschen, die auch in der schrecklichen Nazizeit zu verfolgten Menschen gestanden haben.“
Berkessel, Hans/ Dold, Cornelia (Hrsg.): „Wir waren zunächst mal froh, dass wir noch lebten.“ Die Erinnerungen Walter Grünfelds an seine Kindheit und Jugend in Mainz
ISBN 978-3-7344-1305-6
160 S., 14,90 €
Auch als E-Book erhältlich
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